Von Bäumen und Menschen – eine Kriegszeit in Lössel

von Werner Fleischer

Vom Ort Lössel führt in nordwestlicher Richtung, als Verlängerung der Lösseler Straße, ein Fahrweg zum Sportplatz. Am Ortsende zweigt ein Weg zum Emberg ab, vorbei am Fernsehumsetzer bis zur Besitzung, die früher die Hausnummer 56 des Ortes Lössel hatte. In diesem Haus auf dem Kotten meiner Eltern Anna und Erich Fleischer bin auch ich an einem kalten Novembertag 1931 geboren. Die Hebamme Frau Segreff war meiner Mutter behilflich, wie sie es auch schon bei meinen älteren Brüdern gewesen war. Allerdings mußten meine Mutter und ich uns eine gewisse Zeit gedulden, weil vorher noch im Nachbarort Gerd Kohlhage auf die Welt geholt werden mußte.

Seit ich mich dann richtig auf den Beinen bewegen konnte, waren meine Spielräume Feld, Wiesen und Wald. Während dieser Zeit standen schon drei dicke Buchen am Rand der Besitzung. Wie Torpfeiler standen zwei davon rechts und links an der Einfahrt. Sie dienten als Grenzmarkierung. Die weit ausladenden Zweige gaben sich gewissermaßen die Hände und wirkten so wie Torbogen Sie schützten die Schmiede und das Wohnhaus samt Stallungen vor starken Westwinden, wenn diese vom Pillingsertal aus über die schöne Heidefläche tobten. lm Herbst schüttelten die Winde das gelbbraun gefärbte Laub und die wertvollen Bucheckern von den Zweigen. Aus den von uns Kindern fleißig aufgesuchten Bucheckern wurde in Notzeiten Öl gepreßt. Das Laub ließen wir trocknen und verwendeten es dann bei der Kuh Liese als Stallstreu, wenn kein Getreidestroh mehr vorhanden war. Vor einigen Jahren ist die untere Torpfeilerbuche bei einer Sturmböe abgebrochen und umgefallen; ein langsam vor sich hinfaulender Baumstumpf ist übrig geblieben. Unser Nachbarbesitzer, auf dessen Grund der Baum stand, hatte dadurch ein paar Wochen gutes Brennholz. Einem weiteren Grenzbaum, der alten Wildkirsche, erging es ebenso. Der alte „Glockenapfel“, die Birnen „Gute Luise“ und „Zuckerbirne“ wie die reichtragende Knappkirsche, alles Bäume meiner frühen Kindheit, sind nicht mehr. Bis auf die o.g. Buchen haben meine Vorfahren auf ca. 18000 qm nach und nach die Bäume gefällt und den Boden durch Rodung urbar gemacht, so daß Ackerland, Wiesen und Weiden und Garten entstehen konnten.

Die Wurzeln der oberen Torpfostenbuche hatten nicht alle Platz im steinigen Untergrund und lagen verzweigt oben auf dem Boden. Zwischen ihnen waren Nischen und Höhlen entstanden. Für uns Embergkinder waren es Zimmer und Ställe für Mensch und Tier. Mit Moospolstern ausgelegt als Fußboden und Betten aus Rinden. Zweige über die Wurzeln gelegt, waren die Dächer. Unsere Hunde haben uns immer dabei zugeschaut, erst ein Schäferhund, dann ein Spitzrüde, den wir auch „Spitz“ nannten, und später unsere „Elfi“, eine „Spitzin“, die aber eher zugeschaut hat, wenn wir unsere Baumbude bestiegen, die wir zwischen im Dreieck stehenden Eichen errichtet hatten, natürlich auch mit einem Toilettenloch für „alle Fälle“. Hier bin ich einmal sitzenderweise etwa drei Meter tief gefallen. Ich landete im weichen Graspolster mit der Kniekehle auf einem querliegenden Baum, ohne besonderen Schaden zu nehmen. Unsere Lieblingskletterbäume waren aber die Obstbäume zur Erntezeit, besonders die Kirschen und Pflaumen.

Am eindringlichsten haben sich mir die legendären Geschichten eingeprägt, die die Buche erzählen kann, die oberhalb der Schmiede steht: Kerzengerade gewachsen mit einer steil aufragenden Krone, schaute sie einst vor fast 60 Jahren auf ihre beiden Schwestern herab. Ihre weit sichtbare Spitze streckte sich wie ein Turm zum Himmel.

Blick von Erichs_Kletterbaum
Blick von Erichs Kletterbaum in Richtung Letmathe

Als Einziger von uns kletterte mein Bruder Erich, der damals 17 Jahre alt war, gern durch ihre Äste bis zur Spitze hinauf. Er konnte dann weit ins Land schauen, bei entlaubten Bäumen im Südwesten den Honsel und die Höhen von Veserde sehen. Nach Norden ließ er dann den Blick am Horizont entlang zum Ostfeld gleiten, dem Übergang von Letmathe nach Hohenlimburg. Weiter nördlich sah er den Schälk, die Dröscheder Hardt und östlich die Emst, Ackenbrock und Alexanderhöhe und den Danzturm. Nach Süden wurde der Blick gebremst durch den bewaldeten sogenannten Ossenberg am Weg nach Lössel.

Vielleicht träumte er dann, er könnte, wenn er ein Vogel wäre, über die Felder im Tal fliegen, über die silbern dahingleitende Lenne, über Pater und Nonne, den Burgberg, die Schledde, Sonderhorst und Wäpenschledde, über Letmathe, Grüne, Oestrich und Dröschede. Er sah, wie der Bussard mit seinen weit ausgebreiteten Schwingen weite Kreise zog, im Sturzflug zu Boden sank, um sich gleich wieder auf Windeswogen im Aufwind zu den Wolken, zum blauen Himmel empor tragen zu lassen. Es den Vögeln gleichtun, fliegen können, das war sein Traum!

Blick von Erichs Kletterbaum
Blick von Erichs Kletterbaum in Richtung Saat, Roden, Emst und Kuhlo

Er ging in die Modellfliegerbastelgruppe. Sperrholzgerüste wurden angefertigt, Flugzeugrumpf, Flügel, Schwanz mit Seitenflügeln leimte man aneinander und bespannte sie mit Pergamentpapier. Oft gehorchte ihm der Wind nicht, oder die Obstbäume stellten sich seinem Flugzeug in den Weg, sie wurden beschädigt. Er reparierte, bastelte andere Modellflugzeuge, stelle sie erneut auf die Probe, ob sie ihm jetzt gehorchten; er war unermüdlich, die Flugzeuge von unserer Hangwiese aus gleiten zu lassen. Er überlegte, ob er wohl Segelflieger werden könnte, dabei wäre man aber weiter beim Gleiten auf Wind und Wetter angewiesen. Im Motorflugzeug würde er mit Hilfe der Triebkraft zielgerichtet wie der Bussard durch die Lüfte schweben, das blieb sein Wunsch..

Dazu muß ein Flugzeugführer absolut schwindelfrei sein. Diese Schwindelfreiheit prüfte er immer wieder in seiner geliebten Buche. Er brachte sich von der Kettenfabrik Schlieper, wo er als Kettenschweißer beschäftigt war, eine lange Kette mit und befestigte sie an der Spitze. Nun konnte er auf alle seitlichen Kronenäste klettern, es war wie in einem Zirkuszelt. Er vergewisserte sich so immer wieder seiner Schwindelfreiheit. Sein Entschluß verfestigte sich immer mehr: Ich will Flieger werden.

Erich war ein kräftiger junger Mann, der sein sportliches Können in der Schule und im Lösseler Sportverein unter Beweis stellte. Auch in der Hitlerjugend ließ er sich zu persönlichen Höchstleistungen trimmen, wobei er die weniger „Starken“, wie es oft üblich war, nicht verhöhnte oder hänselte.

Erich_Fleischers_Kletterbaum
Erichs Kletterbaum am Emberg 56, etwas 35 Jahre nach dem Absägen der Spitze.
Foto: Mai 1999

Weiteres Training erfuhr er in der Betriebssportgruppe. Es fand statt im heutigen Steinbruchstadion Grüne, gleich gegenüber seiner Lehrwerkstatt. Seine Kraft ließ er auch gerne durch den Vater oder andere bei der Arbeit auf‘ unserem Kotten bewundern. Es war schon eine große Anstrengung, wenn er sich zwischen die beiden Holme der zweirädrigen sog. „Toag’kar“ spannte, die immer bei Stellmacher Gerdsmann im Pillingser Bachtal geliehen wurde. Im Laufschritt zog er die leere Karre bis zum Kohlenhändler Röttger, so daß wir jüngeren Embergjungen Mühe hatten mitzukommen. Beladen mit 3 Zentnern Steinkohle, zog er die Karre allein über das Steinpflaster bis zur Dechenhöhle, erst von da an durften wir mitschieben bis zum Emberg, wobei immer wieder Pausen eingelegt wurden, aber ohne Zwischenmahlzeiten; wer seinen Durst stillen wollte, trank klares Bachwasser. An der sehr starken Steigung von dem Haus Kreft an wurde alle paar Meter gepaust. Wir mußten dann immer dicke Steine hinter die Holzräder legen. Für solche Transporte wurde kein Pferdefuhrwerk gemietet, das machte Erich schon. Auf diesen Sohn war der Vater besonders stolz, es war sein Lieblingssohn, wenn er auch schon mal seine Kraft an sich selber zu spüren bekam, Erich bremste ihn, wenn er bei gelegentlichem Alkoholrausch unserer Mutter Gewalt antat, z. B. als er so heftig auf die Gesichtsseite schlug, daß sie einen Trommelfellschaden behielt. Er schützte sie, wenn er nur konnte. In seiner Buche hat er gesessen und über seinen Lebensplan nachgedacht und dann Vater und Mutter mitgeteilt, daß er sich zur Luftwaffe freiwillig melden wollte, damit er später nicht, bei der Einberufung zur Wehrmacht bzw. zu einem anderen Truppenteil gezogen würde.

Der Vater lehnte einen Freiwilligenantrag, den er ja unterschreiben mußte, ab. Er war so alt wie Erich gewesen, als er in den Ersten Weltkrieg ziehen mußte und im Granathagel auf den Schlachtfeldern in Frankreich stand, oder besser gesagt mehr schutzsuchend lag und in nassen Schützengräben hockte. Auch im Zweiten Weltkrieg hatte man ihn erneut mit 43 Jahren noch eingezogen, wo er in Frankreich Dienst tat, bis er nach einigen Monaten von seiner Firma Berg reklamiert wurde, um wichtiges Wehrmachtsgut, nämlich Feldbetten, herzustellen, von denen man in den Lazaretten reichliche Mengen brauchte. Meine Mutter konnte sich auch nicht leichtherzig mit dem Gedanken einer Freiwilligenmeldung anfreunden, sie hatte nämlich gleich in den ersten Kriegstagen 1914 ihren einzigen Bruder verloren. Aber sie legte ja wie immer alle Geschehnisse in Gottes Hand und würde so auch Erichs hoffnungsvollem Wunsch nicht im Weg stehen,

Vater hingegen hatte die Ohnmacht erlebt, die die gesamte Natur und alle Kreaturen erlitten, wenn aus den Flugzeugen die Bomben regneten. Das sollte sein Sohn nicht mitmachen. Vater und viele seiner Verwandten, Bekannte und Arbeitskollegen, die dem herrschenden Staatsregime ein baldiges Regierungsende wünschten, glaubten, als im Januar/Februar 1943 die Befestigungsringe um Stalingrad von sowjetischen Truppen durchbrochen wurden, daß der Krieg nun in absehbarer Zeit beendet sein könnte. Auch wenn noch viele ideologisch in die Irre geführte Menschen dem Reichspropagandaminister Goebbels antworteten auf seine Frage: „Wollt ihr den totalen Krieg?“, „Ja, wir wollen ihn!“, so wollte der Vater keine indirekte Unterstützung dieses verbrecherischen Regimes seitens seiner Familie durch seine Unterschrift. Angeblich wurde er aber von den Behörden so beeinflußt, daß er Angst hatte vor „Mittel und Wege“ gegen ihn, die er dann bereut hätte. – Vielleicht, daß man ihn selbst noch einmal eingezogen hätte. –

Der Vater unterschrieb unter starkem Gewissensdruck. Erich war glücklich. Er fährt erst einmal in ein Wehrertüchtigungslager nach Aachen. Hier erhält er das Schreiben der Vorladung zur Vorauslese (Fliegertauglichkeitsprüfung), die am 24.5.1943 stattfinden soll. Mutter hatte ihm dieses Schreiben nachgesandt. Er durfte am Sonnabend vorzeitig aus diesem Lager nach Hause fahren. Ich sah ihn zuerst, fröhlich, ja glücklich den Nachbarwiesenhang herauf eilen. Es war Spätnachmittag, ich habe gerade Castor und Filerio, unsere beiden Ziegenböcke am Wiesenhang in der Nähe seiner Lieblingsbuche gehütet. Er zeigt mir ein Plakat, worauf ein militärischer Panzerangriff dargestellt war, mit einer Ringscheibe in der Mitte. Er wies stolz auf die vielen Einschüsse, die er im mittleren Bereich erzielt hatte. Dann ging er zu den Eltern und der Großmutter ins Haus. Ein Gesprächsthema an diesem Abend war die Frage, ob unser Bruder, Sohn und Enkel Heinrich noch lebe und wo er dann in Gefangenschaft sein könnte. Eine Nachricht war nicht eingetroffen. Er war Soldat in Nordafrika, wo der Krieg am 12. Mai 1943 zu Ende ging.

Das zweite Thema war die Vorbereitung und die Abfahrtzeit zum Soldatenheim vom Iserlohner Westbahnhof zum Hauptbahnhof Dortmund. Einige Eltern der 35 Hitlerjungen aus dem unteren Sauerland hatten beim Oberst Löbbecke im Wehrbezirkskommando an der Gartenstraße angefragt, ob es nicht ausreichen würde, am Montag in Frühe zur Tauglichkeitsprüfung nach Dortmund zu fahren, da doch die Zugfahrt nur eine Stunde dauere und man so den. Gefahren der nächtlichen Fliegerangriffe ausweichen könne, die auf die Ruhrgebietsstädte in letzter Zeit zugenommen hatten. Man hatte kein Einsehen, es blieb bei der geplanten Fahrt am Sonntagnachmittag. Erich packte am Sonntagmorgen noch ein paar Reise-Utensilien zusammen. Er verabschiedete sich und ging über den alten Kirchweg in Richtung Grüne zur Straßenbahn.

Vom Westbahnhof Iserlohn fuhren 35 junge Männer frohgestimmt nach Dortmund. Die warme Maisonne schien durch die Abteilfenster und ließ keine gedämpfte Stimmung aufkommen. Alle waren hoffnungsfroh, die Prüfung zu bestehen. Vom Dortmunder Bahnhof ging es in Richtung Innenstadt, vorbei an einigen zerbombten Häusern. Als Flieger würden sie bald mithelfen können, diese Bombergeschwader zu stoppen. Sie meldeten sich im Soldatenheim und bezogen ihr Quartier. Am Abend erlebten sie zum ersten Mal, wie zum Zapfenstreich geblasen wurde: „Soldaten müssen zu Bette gehen, der Hauptmann hat’s gesagt“. Nun sagten auch Sie sich gegenseitig „Gute Nacht“ und krochen in ihre Etagenbetten.

Bald darauf werden sie aus dem ersten Tiefschlaf gerissen. Die Sirenen heulen, es ist Luftalarm. Oft schon hatten wir in der letzten Zeit zum Alarm unser Haus am Emberg verlassen, waren an den Hang unter die Buche gegangen, hatten über den Schälk in Richtung Dortmund geschaut, wo die sog« Christbäume am Himmel standen und den feindlichen Bombern den Weg ins Ruhrgebiet zeigten, wo sie mit dem Abwerfen der Bomben die Waffen produzierende Industrie und die Transportwege der Reichsbahn zerstören sollten. Über uns grollten die Bombergeschwader. Scheinwerfer leuchteten vom Boden aus, um in ihren Lichtkegeln feindliche Flugzeuge sichtbar zu machen, damit sie von Flugabwehrraketen oder von den Bordkanonen der Jagdflugzeuge abgeschossen werden könnten. Heute hofften wir, daß Erich sicher in einen Luftschutzkeller kommen und den Angriff unbeschadet überleben würde. Er selbst lief zu dieser Zeit über die Flure und Treppen des Soldatenheimes in den Luftschutzkeller. Einer der Hitlerjungen hatte seine Wolldecke vergessen und lief noch einmal zurück in sein Zimmer. Als er dann später über den Innenhof den Schutzraum erreichte und die Tür öffnete, wird er von einer Luftdruckwelle zurück geschleudert nach außen auf den Hof. Als er aus seiner Besinnungslosigkeit wieder erwachte, konnte er nicht ahnen, daß er der einzige Überlebende sein sollte von den 35 Hitlerjungen und von allen anderen, die in dem Bunker waren. Es waren nämlich zwei Bomben schweren Kalibers auf ein und denselben Punkt des Luftschutzraumes gefallen und detoniert. Zur Beruhigung der Eltern hatte noch das Wehrbezirkskommando Iserlohn diesen Schutzraum als besonders sicher dargestellt.

Über uns flogen immer neue Angriffswellen heran. Wir hatten Angst, es könnte ein Bomber seine Last zu früh ausklinken und uns treffen. So gingen wir in unseren Kellerraum, den unser Vater durch Stützung der Deckenbalken mit Eichenstämmen glaubte einsturzsicher gemacht zu haben. In das Bruchsteinmauerwerk hatte er ein Loch gebrochen und mit einer Stahlplattentür gesichert, die man von innen öffnen konnte. Es war der Notausstieg.

Da saßen wir nun, Großmutter, Vater, Mutter, unser Landjahrmädel Anita und ich unter Großmutters Schlafzimmer im muffig, feuchten, kalten Keller und dachten an Erich und all die vielen Menschen, die jetzt getroffen werden könnten. Mutter faltete die Hände und betete still für ihren Sohn.

Als es wieder ruhiger wird und die Sirenen (die nächste zu uns war auf Helmerings Dach installiert im Pillingser Bachtal) den anhaltenden Entwarnungston signalisierten, gehen wir alle wieder zu Bett; aber Schlaf finden die Eltern in dieser Nacht und auch den kommenden Nächten kaum. Am Montag wurde die Nachricht vom zerstörten Soldatenheim fernmündlich zu unserer Information mitgeteilt. Die über dem Bunker zusammengebrochenen Teile des Soldatenheimes würden zügig weggeräumt, es werde aber befürchtet, daß der Eingangsbereich zum Bunker zerstört sei und ein neuer Zugang gebrochen werden müßte. Am Dienstag teilte die o. g. Behörde mit, daß berechtigte Hoffnung bestehen könnte auf Überlebende, da man aus dem Inneren Klopfzeichen wahrgenommen habe. Es bestehe aber die Gefahr, daß durch Wasserrohrbrüche der Raum überflutet würde. Am Mittwoch teilt man uns mit, daß keine Merkzeichen mehr nach außen drängen, der Keller unter Wasser stehe und es keine Überlebenden mehr geben könnte. Für den Donnerstag werden alle Angehörigen der Jungen nach Dortmund bestellt, um die Leichen sofort zu identifizieren. Erich ist um 11.00 Uhr freigelegt worden. Mein Vater fährt am Donnerstag dorthin und bittet uns und alle Fragenden unter verbittertem Gesichtsausdruck um Verständnis, daß er über das Aussehen von Erichs Körper nie und niemandem etwas sagen wird; das hat er bis zum Tod auch nicht getan. Er brachte die Todesanzeige von der Kriminal-Polizeidienststelle Dortmund mit. Es ist ihm aufgetragen, dafür zu sorgen, daß die Beisetzung wegen des anhaltenden schönen Maiwetters so bald wie möglich stattfinden solle. Da für Samstag die Überführung der Särge geplant ist, eine Aufbahrung, wie sonst üblich, im Elternhaus nicht stattfinden kann, besprechen meine Eltern die Durchführung der Beerdigung am Sonntag mit den zuständigen Stellen der Gemeinde Lössel. Da keine Leichenhalle vorhanden ist, soll Erich im verschlossenen Sarg in seinem ehemaligen Schulraum aufgebahrt werden. Am Samstag hält ein Lastwagen, beladen mit den sterblichen Überresten der Hitlerjungen, die jetzt aber, da sie schon im Soldatenheim waren, als Soldaten gelten und den Heldentod gestorben sind, bei der Wirtschaft Eckstein auf dem Roden, um sich nach der Fahrtrichtung zu erkundigen. Ulrich Freese steht dort und gibt dem Fahrer nicht nur Auskunft, sondern fährt mit zur Schule und gibt so als erster unserm Erich schon letztes Geleit.

Hier war unser Erich von April 1931 bis März 1939 als immer lebensfroher, fröhlicher Junge zur Schule gegangen. Auf diesem Schulhof hatte er, wie viele andere mit ihm, im Jungvolk und später in der H. J. gelernt strammzustehen, anzutreten, die Hacken zusammenzuschlagen, beim Kommando „Rührt euch“ den rechten Fuß vorzusetzen und bei „Weggetreten“ nach Hause zu gehen. Sport und Spiele in den Stunden zwischen den Kommandos waren für ihn eine Freude. Nun wird er hier die Schultreppe hinauf getragen und in dem Schulraum aufgebahrt, nachdem die Schultische und Bänke beiseite geräumt waren. Ganz Lössel weiß inzwischen von seinem tragischen Ende und trauert und fühlt mit unserer Familie den Schmerz, besonders mit unserer Mutter. Sie hat alles als von Gott gelenkt angenommen, in dem Bewußtsein, daß er Erich in sein himmlisches Reich aufgenommen hat und uns allen auch weiterhilft. Trost und Wegweisung hat sie sich und uns in Liedern zugesungen:

Befiehl du deine Wege
und was dein Herze kränkt,
 der allertreusten Pflege des,
 der den Himmel lenkt.
 Der Wolken, Luft und Winden
 gibt Wege, Lauf und Bahn,
 der wird auch Wege, finden,
 da dein Fuß gehen kann.

In diesem Glauben hatte auch unser Erich gelebt: und er war so neben den von mir beschriebenen Aktivitäten immer tätig in der Evangelischen Christuskirchengemeinde in den Jugendgruppen. Als Kindergottesdiensthelfer hat er allsonntäglich seiner Kindergruppe die biblischen Geschichten erzählt, jeden Samstag trug er als Schuljunge, wie ich nach ihm, das Sonntagsblatt in die Ortsteile Roden,Lössel ins Pillingser- und Saattal. So konnten wir bei der Beerdigungsplanung es nicht verstehen, daß inzwischen seitens der H. J.-Führung und der N.S.D.A.P-Ortsgruppenleitung die Vorbereitung für eine Art „Staatsbegräbnis“ anlief.

Erich_Fleischer_1943
Vor der Lösseler Christuskirche im Frühjahr 1943. V. L. die Organistin Frau Bergerhoff, Pastor Eickmann, Frau Vogt (?), Erich Fleischer, Frau Meuterodt.

Vater, bekannt als Gegner nationalsozialistischer Ideen, und Mutter als schlichte Christin, die sich nie in den Vordergrund stellte, sondern sich als Gottes Werkzeug zur tätigen Nächstenliebe in dieser Welt verstand, wollten eine Beisetzung, wie sie im Dorf üblich war: im Kreis von Nachbarn, Verwandten und Bekannten, unter dem Glockengeläut der alten Schulglocke, mit dem im Trauerzug vorangehenden Pfarrer.

Ich habe meine Mutter begleitet auf dem Weg zum Pfarrhaus in die Kluse nach Iserlohn und bin beim Gespräch mit Pfarrer Herbers dabei gewesen. Pfarrer Herbers, der nach der Einberufung von unserem Gemeindepastor Gericke zum Wehrdienst zuständig war, erwartete von der Mutter, daß sie den Veranstaltern in Lössel mitteilt, daß außer von ihm von keinem andern eine Ansprache am Grab gehalten wird, nur noch ein Nachruf, wie sonst auch üblich, von der Geschäftsführung der Firma Schlieper, andernfalls er die Beerdigung nicht leiten würde. Mutter ließ sich stärken von dem Bibelwort der Jahreslosung 1943: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen. So verhandelte sie erneut mit den Gremien in Lössel. Die hatten zwar so etwas schon geahnt, waren aber keinesfalls erfreut darüber, da ja nicht die planmäßige Vorbereitung in allen Teilen zurückgenommen werden konnte, zu, viele Gruppen von H. J., Jungvolk und B. D. M. waren schon aktiviert, am Sonntag in Uniform nach Lössel zu kommen.

Warum wollten die dafür Verantwortlichen aus H. J. und N.S.D.A.P. in Lössel „ihrem Helden“ eine solch aufwendige Ehre erweisen? Vielleicht weil sie die Gelegenheit wahrnehmen wollten zu zeigen, wie ehrenvoll jemand gewürdigt wird, der wie Erich und auch viele andere Lösseler Jungen und Mädchen „ihr Blut“ für „Großdeutschland“ und „für ihren Führer Adolf Hitler“ zu opfern bereit waren. Eine Gelegenheit wie bei Erich, in seinem Heimatdorf beigesetzt zu werden, bot sich nicht oft. Was sich dann am Sonntagnachmittag in Lössel abspielte, ohne daß es der erklärte Wille meiner Eltern war, sei hier erzählt.

Als wir am Sonntagnachmittag den Klassenraum betraten, hielten an beiden Seiten des Sarges H. J.-Kameraden in Uniform die Ehrenwache. Sie trugen auch nachher den Sarg zum Leichenwagen und später zum Grab. In dem Schulraum kondolierten die Vertreter der Gemeinde, der H.J. und der Partei. Hier hielten sie auch ihre Ansprachen und sangen mit den Jugendlichen ihre Lieder, die sie nun nicht, wie geplant, vom Friedhof aus ins Tal erschallen lassen konnten. Dann schritten wir unter dem Schein der warmen Maisonne hinter dem Leichenwagen zum Friedhof. Die Schulglocke läutete. Mutter und Vater nahmen mich, den 11jährigen, zwischen sich. Von der Schule bis zum Friedhof standen beiderseits der Straße Kinder und Jugendliche des Jungvolks, des B. D. M. und der H.J.

Als der Leichenwagen vom Friedhofseingang aus bergauf fuhr, mußten die Pferde kräftig ziehen, so daß der Wagen ruckelte. Jetzt floß aus Erichs Sarg, der aus einfachen Brettern zusammengezimmert war, trübe, wäßrige Flüssigkeit, so lange, bis der ebene Weg zur Grabstätte erreicht war. Seine Kameraden nahmen den Sarg vom Wagen, trugen ihn zum Grab und senkten ihn still hinein. Der Fahnenträger hat dann noch gemächlich mit seiner Fahne über dem Sarg gewedelt. Dann traten sie vom Grab zurück, und Pfarrer Herbers konnte mit der Trauerfeier beginnen. An diesem offenen Grab konnte nun eine große Trauergemeinde ihre Trost- und Glaubenslieder singen, den Worten der Heiligen Schrift zuhören, beten und sich und Erich segnen lassen. Das war die Trostbotschaft für ein ganzes Dorf, deren Bewohner überwiegend ein baldiges Ende dieses Krieges herbeisehnten. Zum Schluß folgte dann der Nachruf durch die Firmenleitung von Erichs Arbeitsstätte.

Todesanzeige von Erich_Fleischer_
Der Text der Todesanzeige von Erich Fleischer († 24.5.1943) nach dem „Heimatbrief“ Letmathe, Nr. 13 vom September 1943. Wenn einer von uns fallen sollt… „Am Sonntag, dem 30. Mai, wurde in Lössel der Hitlerjunge Erich Fleischer zu Grabe getragen, der bei einem britischen Terrorangriff auf Dortmund sein junges Leben für Führer und Vaterland hingab. Ortsgruppenleiter Schulte entbot dem toten Kameraden den letzten Gruß, die Bevölkerung nahm starken Anteil an dem Schicksal der Familie.“

Viele ältere Lösseler können sich sicher noch besser als ich oder vielleicht auch anders als ich an diesen Tag erinnern. Vielleicht standen sie mit ihm Spalier oder waren mit am Grab, wissen aber nicht oder unvollständig, wie es zu diesem Planungsablauf gekommen ist. Lössel sollte eben, meiner Meinung nach, in diesen Zeiten ein Zentrum nationalsozialistischer Schul- und Erziehungspolitik sein, bei der andersdenkender Elternwille nicht gefragt war, besonders nicht derer, die aus christlicher Überzeugung anders dachten. Nachdem Pfarrer Herbers die Trauerfeier beendet hatte und wir noch einmal auf Erichs Sarg schauten, auf dem nun Blumen und etwas Erde lagen, gingen wir mit den Familienangehörigen und Nachbarn zum Emberg, Frau Gericke, die Frau unseres unvergessenen Pfarrers Hans Martin Gericke, der im gleichen Jahr noch beim Militär umgekommen ist, hatte uns ein Heftchen überreicht: „Evangelische Rüstung wider den Tod“. Darin schrieb sie: „Was wir bergen in den Särgen ist der Erde Kleid. Was wir lieben, ist geblieben, bleibt in Ewigkeit.“ Diese Gedanken begleiten uns auf dem halbstündigen Weg zum Beerdigungskaffeetrinken. Hier konnten alle bei den Gesprächen ihren Meinungen freien Lauf lassen. Hier in der Abgeschiedenheit, weit weg vom Dorf, wo vielleicht gleichzeitig parteiintern noch ein paar Bierchen geflossen sind, wurden aber auch keine Hochrufe auf den Führer Adolf Hitler mehr ausgesprochen. Hier, auf dem Emberg, konnte man sich Mut zusprechen und gemeinsam der Meinung sein, daß das „Tausendjährige Reich“ wohl doch nicht mehr zu lange währen konnte, da die Truppen an einigen Stellen schon Rückzugsgedanken hatten. Zwei Jahre später war es dann soweit, der Friede und damit der Aufbau konnte beginnen.

Bis dahin schaute der Vater mit traurigen Gefühlen zu Erichs Kletterbuche, von deren Spitze herab immer noch die Kette hing, die Erinnerung an den Sohn. Eine Zeitlang hielt er dem stand, bis er im nächsten Winter zu Axt und Säge griff, die Leiter an den Stamm stellte, hinaufkletterte, sich anseilte und am Kronenbeginn den Mittelast mit der aufstrebenden Spitze absägte.

Die Seitenäste sind seitdem erstarkt. Sie versuchen beim Wachsen, Spitzenfunktion zu übernehmen und bildeten so einen Astkelch. Auf dieser Sägestelle im Kelchgrund sammelte sich immer das Regenwasser und bewirkte in den ca. 50 Jahren eine tief in den Stamm sich bohrende Fäulnis.

Wie lange sie noch den Stürmen standhält, weiß ich nicht. Für uns Emberger ist sie ein „Denkmal“ und sollte es auch für alle Vorbeiwandernden sein. Sie mahnt uns alle, daß Frieden im Land und in der Welt ein hohes Gut ist und wir alle dazu beitragen sollen.

1. Nachtrag: Bald nach Erichs Beerdigung merkten wir, daß außer uns jemand ganz besonders um ihn trauerte, denn bis zum Herbst stand jede Woche ein Strauß frischer Blumen auf seinem Grab; wahrscheinlich hingestellt unter Einhaltung einer stillen Zwiesprache, vielleicht verbunden mit einem Gebet. Es geschah immer zu einer Zeit, wo keiner von uns oder Bekannten und Verwandten es hat beobachten können. Es blieb ein Geheimnis um diese Zuneigung.

2. Nachtrag: War es wirklich Erich, den wir zu Grabe getragen haben?
1970 teilt uns der Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge mit, daß sie Unterlagen hätten, wonach Erich auf einem Dortmunder Friedhof beerdigt sein solle. Sie baten ums um Angaben von Erichs unveränderlichen Merkmalen, vor allem das Gebiß und die Knochen betreffend, damit sie ihn bei Graböffnungen sicher zuordnen könnten, weil bisher kein Name auf Grabplatten gefunden worden sei. Sie waren zufriedengestellt, als sie meine Angaben über die stattgefundene Beerdigung in Lössel erhalten haben, obwohl es keiner bestätigen kann, da der Sarg ja nicht mehr geöffnet werden konnte. Mutter und Vater lebten zu diesem Zeitpunkt nicht mehr.

3. Nachtrag: Wo ist mein Bruder in Lössel beerdigt?
Auf dem Friedhof steht Erichs Name am Ehrenmal eingemeißelt bei den im Krieg 1939-45 „Gefallenen“. Die Ruhestätte Breuker Fleischer wird man vergeblich suchen. Die 5-Grabstellenanlage lag am unteren Hauptweg an der linken Seite zwischen den Grabstellen Berghammer und Grote. Hier steht hinter einem Zypressenbusch z. Zt. noch das 1914 aufgestellte Denkmal. Nach Ablauf der Ruhezeit meines Vaters, der als Letzter hier beigesetzt wurde (30 Jahre nach dem Beerdigungstag) soll am 20.7.1990, laut Schreiben des Herrn Stadtamtmanns E. aus planerischen Gründen das Nutzungsrecht nicht wiedererworben werden können. Auf telefonische Nachfrage wird mir mitgeteilt, daß diese Gräber aus betriebstechnischen Gründen, die maschinelle Grabaushebung betreffend, nicht mehr belegt werden können. Selbst wenn in der Zeit bis 2013 für unsere Erbgruft eine weitere Belegung in Auftrag gegeben würde, müsse es seitens der Stadt abgelehnt werden. Unter dem Versprechen, daß dieses Stück parkähnlich bleiben würde, habe ich die Einwilligung zum Abräumen von Denkmal und Mauerwerk gegeben. Wenige Monate nach diesem Gespräch mußte ich feststellen, daß man ca. Zweidrittel der Umrandung weggeräumt und diese Fläche als Zweier-Grabanlage eingerichtet hatte, wovon ein Grab neubelegt war, allerdings in anderer Grabrichtung, heute Grabstätte der Eheleute Kubis. Gerade diese Fläche hätte meiner Ansicht nach nicht neubelegt werden dürfen. Mir war in Erinnerung aus der Zeit, da ich als Gartenbaugehilfe auf dem Katholischen Friedhof in Letmathe mit Grabaushubarbeiten beschäftigt war, daß eine 3fache Belegung nicht stattfinden sollte, solange andere Flächen vorhanden sind. Bei uns war aber Mutters Liegestelle schon im Grab meiner Urgroßmutter, gerade da, wo es jetzt neubelegt war. Nicht alle Familienangehörigen denken so wie wir, daß es sich bei den Gräbern um irdische, aber nicht um ewige Bleibe handelt, und können dieses Geschehen nicht entschuldigen. Z. B. ein weit über 90zig Jähriger hatte Sorge, daß so etwas mit seinen Gräbern auch passieren könnte, da in Dahlsen der Friedhof auch in Verwaltung der Stadt ist. Auf Erichs Grab steht nun ein Denkmal, unter anderem mit Aufschrift Kapitänleutnant i.R. Nun, auf Erden ist scheinbar keine vollkommene Gerechtigkeit und Verständnis bei den Behörden zu erwarten. O. g. Beamter hat sich bei mir entschuldigt, als ich ihn nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst in der Stadt getroffen habe und wir den Sachverhalt noch einmal erörtert haben. Der Herr Jesus hat meine verstorbenen Angehörigen auf Erden begleitet und sie aufgenommen in sein himmlisches Reich. Dieser Glaube, der sie getragen hat, trägt auch uns.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors Werner Fleischer

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