Nachkriegszeit in Letmathe

Auszüge aus dem Buch
„Bürger aus Letmathe, Oestrich und der Untergrüne erinnern sich an die Nachkriegszeit“ erfragt und aufgeschrieben von Alois Grusemann

Die Besetzung Letmathes
Der Krieg ging in Letmathe mit einem lauten Knall zu Ende. Deutsche Truppen sprengten in den letzten Kriegstagen die Lennebrücke am Hotel „Zur Post“. Ansonsten ging der Übergang an die Amis recht friedlich über die Bühne: Sie waren einfach da. Die Panzersperren, die der Volkssturm so mühsam auf der B7 und an der B236 (beispielsweise in der Untergrüne) gebaut hatte, waren alles andere als ein Hindernis. Schon vorher hatten Leute gespottet: „Für diese Dinger brauchen die Amis zehn Minuten: neun Minuten, um sich kaputt zu lachen, eine Minute, um sie zu durchfahren“.(…) (Westfalenpost, 15. April 1965)

Am Sonntag, dem 15. April 1945, kamen die Amerikaner mit ihren Panzern und anderen Militärfahrzeugen die Helmkestraße hinunter gefahren. Paul Molzahn wohnte damals an der Bahnhofstraße. Er erinnert sich, dass aus den Panzertürmen farbige Amerikaner schauten. Links und rechts neben den Panzern gingen Soldaten, das Gewehr im Anschlag. Von den Fußtruppen wurden die deutschen Soldaten gefangen genommen. Sie mussten sich auf einer Wiese an der Bahnhofstraße lagern. Von den Amerikanern wurden sie bewacht. Später wurden sie mit Militärlastwagen abgeholt und auf dem Sportplatz von „Letmathe 98″ bis zum weiteren Abtransport eingesperrt.(…)

Als die Amerikaner über die Hagener Straße kamen, nahm als Einziger in Letmathe der damals etwa 10-jährige Werner Hartmann (heute Uhrmachermeister) den „Kampf gegen die Besatzer auf. Er legte sich mit seinem hölzernen MG auf die Straße und ließ es rattern. Das machte er so lange, bis ihm die Amerikaner das Spielzeug abnahmen. (Info von Karl Overkamp und Willi Schulte am 11.3.2004)

In Letmathe mussten die Amerikaner nun ihre Soldaten unterbringen. Dieses Problem lösten sie so, wie es wohl alle Armeen machen. Sie beschlagnahmten einfach die Villen und Häuser von Letmather Bürgern. Dabei suchten sie sich die schönsten und für sie zweckmäßigsten Gebäude aus. In die Villen der Letmather Fabrikanten und in die besseren Häuser der Geschäftsleute zogen die höheren Offiziere, in die einfacheren Wohnungen kamen die Soldaten.Aus den alten Unterlagen des Archivs der Stadt Letmathe geht hervor, dass in Letmathe/Oestrich 25 Häuser mit 78 Wohnungen von 249 Personen beschlagnahmt wurden. Die Eigentümer der Wohnungen durften sich, wenn sie Glück hatten, einige persönliche Dinge mitnehmen. Sie mussten sich dann ein Quartier bei Verwandten oder Freunden suchen. Manchmal wurden die Wohnungen auch von der Behörde zugewiesen.(…)

 

Gefährliche Spiele
Nach dem Krieg wurden Panzer, Kanonen, Lastwagen und Motorräder auf verschiedenen Plätzen in der Stadt vorübergehend bis zur Beseitigung abgestellt. Der bekannteste Platz, von dem Fotos in der Broschüre des Heimatverlages „Erinnerungen an Alt-Letmathe“ abgedruckt sind, ist der Neumarkt in Letmathe. Die Bilder dieser Broschüre zeigen nur einsatzfähige Fahrzeuge die in gleichen oder ähnlichen Ausführungen nach Letmathe gelangten und nun auf weitere Verwendung oder auf die Verschrottung warteten. Ein weiterer Platz mit vielen Militärfahrzeugen aller Arten war auf der Lennewiese direkt hinter dem Bahnübergang in Stenglingsen. Auch am Saatweg in der Grüne soll ein Sammelplatz gewesen sein.(…)

Kriegsgerät auf dem Neumarkt. in Letmathe
Kriegsgerät auf dem Neumarkt. Im Hintergrund die heutige Realschule.

Auf dem Honsel war damals eine Kippe der Firma Schütte & Meyer. Hier ereignete sich bereits vor Kriegsende, und zwar am 12. April1945, ein tödliches Explosionsunglück. Ein Junge vom Honsel hatte, die Gefahr der herumliegenden Munition nicht kennend, eine Eierhandgranate aufgehoben und damit gespielt. Er hatte die Sicherung der Granate gelöst, sie dann aber nicht sofort weggeworfen (3 Sekunden Zündzeit). So explodierte die Granate hinter seinem Kopf und tötete ihn auf der Stelle. Ein Spielgefährte war Augenzeuge und verständigte seine anderen Spielgefährten und später auch die Familie (nach Helmut Röster)

Nach Ende des Krieges lag überall da, wo Soldaten gewesen waren, Munition. Fachleute erkannten an den Kampfmitteln, von welchen Kampfeinheiten die Hinterlassenschaften stammten. Es lagen fast überall alle möglichen Kaliber von Granaten für Geschütze und Kanonen herum, Panzerfäuste, Handgranaten, Granatwerfermunition sowie Gewehr- und Pistolenmunition in allen möglichen Verpackungen und Magazinen. Auf den Wiesen an der Lenne konnte man sich aussuchen, womit man spielte. Wie gefährlich unsere neuen Spielzeuge waren, konnten wir noch nicht einschätzen.

Aus dem Tagebuch von Helmut Röster:
Nach der Gefangennahme der Landser hatten wir nun Zeit, die drei Züge auf der Bahn näher zu untersuchen. Wir stöberten erst nach Waffen und fanden Pistolen, Gewehre, sogar Maschinenpistolen und jede Menge Handgranaten sowie geballte 2-5 kg Ladungen. Mit Brennzünder und Sprengkapseln zum Scharfmachen der Handgranaten kannten wir uns aus. In einem Waggon fanden wir Munition jeder Art. An der Lenne wurden dann die Handgranaten gezündet und ins Wasser geworfen. Es gab dann immer eine große Fontäne. Dass dabei nichts passiert ist, ist ein Wunder.(…)

An der Hagener Straße hatten Kinder ohne Wissen der Eltern Granaten mit in ihr Schlafzimmer genommen. Als sie damit spielten, explodierten sie, töteten eines von ihnen sofort und setzten die Wohnung in Brand. Auch das zweite Kind überlebte nicht. An der Langeruthe zerfetzte explodierende Munition beim Spielen einem Jungen die Hand.(…)
(lt. Willi Dicke vom 4.2.2002)

Unter Aufsicht der Besatzungsmächte – zuerst der Amerikaner, später der Engländer – wurde die Munition eingesammelt und in der Nähe des Bürenbrucher Weges oder im Steinbruch hinter dem Schwarzen Loch gesprengt. Diese Sprengungen fanden mindestens einmal täglich statt und wurden ca. sechs Monate lang durchgeführt. Da die Munitionssuche nicht sorgfältig vorgenommen wurde, starben noch viele Kinder und Erwachsene beim Hantieren mit diesen noch gefährlicher gewordenen Rückständen. Deshalb wurden später nochmals Munition-Räumkommandos gegründet. Die suchten die Wälder im letzten Kessel noch einmal ab. Munitionsräumer gibt es heute noch immer bei den Bezirksregierungen.

 

Unter Militärverwaltung
Im Februar 1945 vereinbarten die Alliierten auf ihrer Jaltakonferenz die endgültige Festlegung der Besatzungszonen und der vier Berliner Sektoren. Am 5. Juni 1945 unterzeichneten als Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte General Eisenhower, Marschall Schukow, Feldmarschall Montgomery und General Lattre de Tassigny die Proklamation zur Übernahme der Regierungsgewalt in Deutschland einschließlich aller Machtvollkommenheit. Die oberste Regierungsgewalt wurde von den Regierungen der Siegermächte ausgeübt.

Britischer Personalausweis eines Deutschen in der Besatzungszeit
Britischer Personalausweis eines Deutschen in der Besatzungszeit

Die lokale Militärregierung war nun in den einzelnen Zonen die oberste Instanz. Sie erteilte die Befehle an die deutschen Gehilfen und Amtsträger. Sie setzte sie ein und löste sie, wenn sie ihren Erwartungen nicht entsprachen, wieder ab. Sie führte in den einzelnen Zonen neue Personalausweise und viele Formulare ein. Wenn man von einer Besatzungszone in die andere wollte, musste man sich bei der zuständigen Behörde unter Angabe der Gründe eine entsprechende Genehmigung holen.

In der Villa Schütte gegenüber der Flemestraße hatten die Briten eine Kommandantur eingerichtet. In dieser Kommandantur war eine Spezialpolizei stationiert. Diese Einheit war direkt dem britischen Kriegsministerium unterstellt. Sie war von Letmathe aus für das westliche Gebiet bis nach Köln und Aachen sowie für das Ruhrgebiet zuständig. Ihre Hauptaufgabe war die Kontaktaufnahme mit den Wirtschaftsführern und Politikern dieses Raumes. Weiter war sie für den Wiederaufbau der deutschen Polizei zuständig. Wolfgang Schulte, der damals als Dolmetscher bei den Briten beschäftigt war, berichtete mir, dass er englische Politiker, Ingenieure und Historiker auf ihren Reisen begleiten musste. Die Fahrten der Militärpolizisten fanden nicht nur im deutschen Raum statt, sondern führten bis zu den Gefangenenlagern in Frankreich. Aus den Lagern holten sie unbescholtene Polizisten für die neue Polizei.(…)

 

Überlebenskampf
Bereits im Krieg mussten sich die Menschen nach Lebensmitteln und Gebrauchsgütern anstellen, in der Schlange stehen und warten. Durch die Lebensmittelkarten und durch die Bezugsscheine wurden sie aber bei der Zuteilung von Gütern, sofern welche vorhanden waren, eher berücksichtigt als nach Kriegsende.Die Versorgung und die Verteilung von Waren war nach dem Kriege schwieriger und ungerechter. Viele der einst vorhandenen Vorratslager waren durch Bombenabwürfe oder – gemäß Führerbefehl – durch vorsätzliche Sprengung durch die Wehrmacht zerstört worden. So erinnerte sich Willi Dorrer daran, dass oberhalb vom Hirschberg von den Soldaten der Organisation Todt Lastwagen, die mit Lebensmitteln beladen waren, gesprengt wurden.

Der Volksgarten wurde 1945 für den Anbau von Kartoffeln und Gemüse umgepflügt
Der Volksgarten wurde 1945 für den Anbau von Kartoffeln und Gemüse umgepflügt

Auch auf dem Oestricher Sportplatz wurden Lastwagen mit Lebensmitteln in Brand gesetzt. Es war also nicht verwunderlich, dass alles fehlte. (Informant: Norbert Winter)

Hinzu kamen die vielen Evakuierten, Flüchtlinge und Vertriebenen, die ja auch mit den Gütern der jeweiligen Region versorgt werden mussten. Die schlecht versorgten Gefangenen gingen, nachdem sie befreit worden waren, verständlicherweise her und raubten Nahrungsmittel, die sie zuvor nicht in ausreichender Menge bekommen hatten. Das alles trug dazu bei, dass die meisten Deutschen hungern mussten.

Deshalb wurde man erfinderisch und nutzte jede mögliche Landfläche aus, die einen Ernteertrag versprach. So wurden die Wiesen im Volksgarten zu Feldern, die Grünstreifen auf der Berliner Allee, die damals noch an der Kluse endete, zu Gärten, die Wiesen über den Steinbrüchen, auf denen die Erdkruste meistens nicht dick war, zu Gartenland. Blumenbeete in den Privatgärten schaffte man ab. Auf jeden Quadratmeter halbwegs fruchtbaren Bodens pflanzte man Kartoffeln und Gemüse. Die Pflanzen wurden im eigenen Frühbeet aus Samen (wenn man welchen bekommen hatte) herangezogen und mit Gartennachbarn ausgetauscht. An anderen, für Gemüse und Kartoffeln weniger geeigneten Stellen wurden Beerensträucher oder Obstbäume gepflanzt.(…)

 

Politischer Neubeginn und Entnazifizierung
Nach seiner Rückkehr aus Eickelborn, wohin die Nationalsozialisten ihn zwangsversetzt hatten, übernahm Franz Ringbeck 1945 das Amt des Bürgermeisters. Bekannte Letmather Bürger und die Geistlichkeit hatten ihn, den Nazigegner, den Amerikanern für dieses Amt vorgeschlagen. Als erster Nachkriegsbürgermeister verwaltete er dieses Amt in schwerer Zeit bis Oktober 1946. Von 1946 bis 1954 war er dann Rektor der katholischen Westschule. Er verstarb am 2. September 1960.

Am 18. Dezember 1945 fand die 1. Sitzung der Stadtverordneten statt. Der Kreiskommandant der alliierten Militärregierung, Major Thomas, und Landrat Jakobi nahmen daran teil. Jakobi eröffnete die Sitzung und erklärte: „Dies ist eine bedeutungsvolle Stunde für die Stadt Letmathe“. Er betonte, dass durch die Einführung der Gemeindeparlamente die Demokratie zu einem neuen Start angetreten sei. Er bedankte sich bei Major Thomas für seine persönliche Initiative. Als Zweiter sprach Major Thomas. Er sagte unter anderem, dass die Geschichte bewiesen habe, dass Diktaturen immer zum Krieg führen. Er wies auf die Verantwortung der einzelnen Stadtverordneten hin. Sie seien die Vertreter des Volkswillens. Er betonte weiter, dass der jetzige Bürgermeister Ringbeck in sein Amt eingesetzt worden sei, weil er das Vertrauen besitze und die Fähigkeiten für dieses Amt mitbringe. Er ließ abstimmen, ob Ringbeck das Vertrauen der Stadtverordneten genieße. Einmütig wurde das Vertrauen ausgesprochen.(…)

 

Schicksale: Witwen und Waisen, Heimkehrer, Flüchtlinge, Vertriebene
Zu dem Dienst in der deutschen Wehrmacht wurden zu Beginn des Krieges viele junge Männer eingezogen. In den gehobenen Stellungen befanden sich am Anfang des Krieges viele Männer zwischen 30 und 45 Jahren.Es waren Familienväter, aber auch Männer, die erst kurz vor dem Krieg geheiratet hatten. Oft waren es Soldaten, die bereits fielen, als ihre Kinder noch nicht geboren waren.

Die Ehefrauen bzw. die Eltern oder die Eltern der Gefallenen bekamen dann von den zuständigen Stellen einen Brief, in dem der Tod des Ehemannes oder Sohnes bekannt gegeben wurde. Manchmal gab es auch noch eine nachträgliche Beförderung, oder die Angehörigen bekamen noch Kriegsabzeichen mit den dazu gehörigen Urkunden zugeschickt. Das war aber dann das Letzte, was sie vom Staat erhielten. Von nun an standen die Frauen allein da. Sie waren für ihre Kinder und das Bewältigen aller täglichen Probleme allein verantwortlich. Hilfe bekamen sie vielleicht von den Eltern, Schwiegereltern oder Geschwistern, wenn diese noch jung und gesund waren und in der Nähe wohnten…

Von den Rentenversicherungsanstalten bekamen sie nur ganz niedrige Renten. Die Arbeitslosen- und Kurzarbeiterzeiten vor der Machtergreifung und das niedrige Lebensalter ihrer gefallenen Männer wirkten sich negativ bei der Rentenberechnung aus. Wenn die Frauen noch arbeitsfähig waren und auch noch nicht das entsprechende Lebensalter für den Rentenbezug erreicht hatten, bekamen sie nur Halbwaisenrente für ihre Kinder. Halbwaisenrente wurde ab 1945 nur bis zum sechzehnten Lebensjahr bezahlt. Sie betrug damals 25 RM. Später erhielten die Frauen noch eine kleine Kriegerwitwenrente…

Das Statistische Bundesamt stellte im Jahre 2002 fest, dass in der heutigen Bundesrepublik noch 14,8 Millionen Menschen leben, die in der Zeit von 1930 bis 1945 geboren sind. Diese Menschen, die ihre Kindheit und Jugendzeit im Kriege und in der durch Not bestimmten Nachkriegszeit erlebten, mussten früh lernen, mit den Widrigkeiten und Grausamkeiten des Krieges und dessen Folgen fertig zu werden…

2,5 Millionen aus diesen Altersklassen war der Vater genommen und damit die Familie zerstört. Sie waren zu Halbwaisen geworden und konnten nur noch mit der Mutter sprechen. Viele jüngere Halbwaisen lernten ein geordnetes Familienleben gar nicht kennen. Sie mussten sich damit abfinden, dass der vorhandene Elternteil (auch viele Frauen kamen zu Tode) für das eigene und das Überleben der Kinder arbeiten musste…
100.000 Kinder aber waren noch ärmer und schlimmer dran. Sie wurden durch den Tod beider Elternteile zu Vollwaisen. Sofern die Kinder noch jung waren und von Großeltern oder anderen Verwandten aufgenommen wurden, hatten sie es in der Regel noch gut getroffen denen gegenüber, die in Heime oder in Waisenhäuser kamen und dort aufwuchsen…
Circa 74.000 Kinder kamen nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes allein bei den Bombenangriffen ums Leben…

Am 07. Januar 2004 sprach ich mit drei Frauen, die heute im Stadtgebiet von Iserlohn leben. Sie hatten alle als junge Mädchen die Vertreibung, zum Teil unter Waffengewalt, erlebt bzw. waren in unmittelbarer Nachbarschaft ihrer Elternhäuser damit konfrontiert worden. Hier soll aber nur wenig über ihre Vertreibung und Flucht berichtet werden. Die einzelnen Stationen der heutigen Großmütter waren bis zur Ankunft in Letmathe verschieden. Berichten möchte ich fast nur über ihre Erinnerungen an die erste Zeit in Letmathe. Da ich diese Frauen schon von der Jugendgruppe her kenne, nenne ich sie nachfolgend mit ihrem Vornamen. Sie zählen zu den 5.388 Vertriebenen, die in Letmathe bis zum 25-jährigen Stadtjubiläum am 15. Dezember 1960 Neubürger wurden. Das waren 21,1 Prozent der Letmather Bevölkerung. (Zahlen entnommen: Letmathe „Eine aufstrebende Stadt“, 2. Auflage, Seite 533)

Öffentliche Aufforderung zur Abgabe von Decken
Öffentliche Aufforderung zur Abgabe von Decken

Annemarie K. kam mit ihren Eltern und ihrem älteren Bruder aus Groß-Nossen bei Breslau in Schlesien. Sie floh vor der russischen Armee mit einem Pferdewagen voller Hausrat und wurde im Sudetenland untergebracht. Von hier aus musste sie mit ihren Eltern erneut flüchten und kam, inzwischen von den Russen überholt und ausgeplündert, nur noch mit dem, was sie auf dem Leib hatte und tragen konnte, in Letmathe an.

Sie wurden in der Turnhalle an der Mittelschule untergebracht. In dieser Halle hatte man Doppelstockbetten aufgestellt. Dabei hatte man sich bemüht, dass die Familien in einem Block zusammenblieben. Diese einzelnen Blöcke waren zum Teil mit Decken, Laken oder Mänteln unterteilt. So hatte jede Familie in der Nacht einen eigenen kleinen Bereich. Die Geräusche und Gespräche der anderen Menschen, insgesamt waren es 78 Personen, waren natürlich immer zu hören. Da nur ein einziger kleiner Waschraum vorhanden war, wurde das Waschen zur Kunst. Zum Essen mussten sie zur Volksküche. Diese war damals am Letmather Bahnhof eingerichtet. Ihre Speisen empfingen sie in einem Holznapf, wie man es heute teilweise aus Entwicklungsländern im Fernsehen sieht. Butterbrote wurden geschmiert angeliefert. Als dann die Ersten aus der Turnhalle in andere Quartiere verlegt worden waren und mehr Platz in der Halle war, erhielten sie zum Kochen eine Kochplatte.
Die Familie K. bekam dann ziemlich als letzte der Bewohner der Turnhalle eine private Wohnung an der Jahnstraße 1 zugewiesen. Hierbei erinnert sich das damalige Fräulein K. noch besonders gern an die gute Nachbarschaft, die im Hause war. So hatten die Kinder von ihrem Vater den Auftrag bekommen, auf den Straßen nach der Alufolie die in den Zigarettenpackungen war, Ausschau zu halten und sie als Schmuck für den Weihnachtsbaum aufzuheben. Als dann das Fest kam, kamen die Nachbarn und brachten den neuen Hausbewohnern Weihnachtskugeln, Halter mit Kerzen und sonstige kleine Weihnachtsgeschenke wie Geschirr, Plätzchen, einen Ball usw. Dass die Freude der ganzen Familie, besonders der Kinder, in dieser Zeit der Not ganz besonders groß war, das kann sich sicher jeder, der die damalige Zeit noch in Erinnerung hat, gut vorstellen.

Jutta M. kam mit ihren Eltern, ihrer Großmutter und ihrer 3 Jahre jüngeren Schwester aus Glatz in Schlesien. Auf der Zugfahrt in den Westen- es war noch Anfang April 1946 – wurden die Vertriebenen in Viehwaggons ohne Heizung und Toiletten transportiert. Die Notdurft mussten die Waggoninsassen alle in einen Eimer verrichten. In verschiedenen Städten wurde ein Zwischenstopp eingelegt. Über Nacht wurden sie dann jeweils in ein Barackenlager einquartiert. Bevor sie die Baracke betreten durften, wurden sie entlaust. So gelangten sie schließlich über Siegen in das Auffanglager in Hohenlimburg auf dem Sonnenberg in Oege. Von dort aus kamen sie in das Notquartier, das in der „Roten Schule“ in Letmathe an der Oeger Straße eingerichtet war. Hier waren die Klassenräume mit Doppelstockbetten ausgestattet worden. Die Räume hatte man wie in der Turnhalle mit Planen und sonstigen Tüchern unterteilt. Aber das Wichtigste war, dass die Familie zusammengeblieben war. Der Aufenthalt in der Schule dauerte nur wenige Tage.
Später bekam die Familie durch das Wohnungsamt bei der Familie Nie an der Schwerter Straße das nach Südosten liegende Balkonzimmer und einen kleinen Kellerraum zugewiesen. Nun lebten sie zu fünft in einem Zimmer. Da im Hause eine Zentralheizung war, bekamen sie nur zum Kochen eine Kochplatte vom Wohnungsamt. Da das Wohnen zu fünft in nur einem Zimmer unerträglich wurde, erhielten sie für die Großmutter noch ein Zimmer.
Ihr Vater hatte in Neisse (Oberschlesien) eine Kerzenfabrik und zwei weitere Geschäfte von seinen Eltern geerbt. Unter großen Schwierigkeiten versuchte er nun, sich in Letmathe wieder mit der Produktion von Kerzen selbstständig zu machen. Da ihm keine geeigneten Räume zur Verfügung gestellt werden konnten, nahm er das Gießen der Kerzen zeitweise auf dem Balkon oder im Keller des Wohnhauses Nie vor. Da er auch im hiesigen Raum noch alte Kunden hatte, kam er sehr langsam wieder ins Geschäft. Schwierig war die Beschaffung von Wachs. Deshalb hatte er in verschiedenen Geschäften – z. B. Kurzhöfer – eine Tonne für das Sammeln von Kerzenresten deponiert. Die von den Kunden der Händler abgegebenen Reste holte er regelmäßig ab. Daraus stellte er in einer 19 Kerzen fassenden Form wieder neue Weihnachtskerzen her. Er fand keine geeigneten Räumlichkeiten für eine größere Produktion. Alle hatten in Erinnerung an die Brände im Krieg Angst, dass durch das brennbare Wachs ein Brand in ihrem Gebäude ausbrechen könnte. Man hatte sogar eine Behörde zur Prüfung der Sicherheit eingeschaltet.

Deshalb fing er nach Absprache mit den Behörden 1948 an, in Eigenleistung zu bauen, um im eigenen Hause produzieren zu können. Im Sommer 1950 wurde das Haus bezogen. Aus Geldmangel waren die Fenster nicht gestrichen, es gab keine Innentüren, keine Sanitäranlagen. Nur eine Toilette war im Haus. Es gab nur eine Heizstelle: Das war der Küchenofen. Deshalb vereisten im Winter die Fenster.
Aber auch diese Zeit ging vorüber. Gern erinnert sich Jutta noch an Frau Nie und an Grete Kurz, von denen sie oft Lebensmittel geschenkt erhielt.

Die Dritte im Bunde der drei jungen Damen, die sich bereits damals, als sie sich kennen lernten, anfreundeten und sich auch heute noch regelmäßig treffen, ist Luci P. Sie floh mit ihren Verwandten aus Klingenberg im Raum Königsberg in Ostpreußen auf einem Pferdewagen. Damit überquerten sie auch das zugefrorene Haff. Sie fuhren an von Tieffliegern zerstörten Trecks vorbei. Tote Menschen und Tiere und zerschossene Fluchtwagen säumten den Weg. Sie wurden von Tieffliegern beschossen und suchten unter dem Wagen bei dem Angriff Schutz. Nur ihre Großmutter blieb immer auf dem Wagen sitzen. Als das Eis zu tauen anfing, mussten die älteren Kinder, damit der Wagen leichter wurde, vom Wagen absteigen und durch das sich auf der Eisdecke bildende Wasser neben dem Wagen gehen. Sie hatten Glück und erreichten das Festland. Der Vater und ein Bruder wurden während der Flucht von der Familie getrennt. Sie kamen in ein Lager in Dänemark. Dies war ein richtiges Gefangenenlager, mit Stacheldraht umzäunt und scharf bewacht. Da die Dänen wegen des Krieges verständlicherweise nicht deutschfreundlich waren, wurden von einigen dänischen Vorgesetzten die Lagerinsassen schikaniert. Es gab aber auch Dänen, die freundlich zu den deutschen Insassen waren. So hat ein Däne eine junge Deutsche, die er dort im Lager kennen gelernt hatte, später von Deutschland aus als seine Ehefrau nach Dänemark geholt. Durch die Bemühungen des Suchdienstes des Roten Kreuzes hatte ihr Vater seine Familie in Dänemark wieder gefunden. Durch den Briefwechsel wusste er nun auch, dass seine Angehörigen alle die Flucht überlebt hatten.
Inzwischen hatte er bei Bauunternehmer Heinrich Göke eine Arbeitsstelle als Maurerpolier angenommen. Sein Sohn war in demselben Betrieb als Maurer eingestellt worden. Da es ihm hier in Letmathe so gut gefiel, wollte er auch am Ort bleiben. Deshalb stellte er am 8. Okt. 1947 einen Antrag auf Familienzusammenführung. 1948 kam die Großfamilie in Letmathe an. Seine Arbeitskollegen hatte er immer über den Ablauf der Zusammenführung unterrichtet. Den Tag der Ankunft konnte zur damaligen Zeit jedoch keiner voraussagen. Da ihr Vater trotz der Vertreibung den Humor nicht verloren hatte, hatte er seine Kollegen aufgefordert, sie möchten ihm Bescheid geben, wenn sie eine „Geiß mit sieben Jungen“ sehen würden. Als dann ein Arbeitskollege rein zufällig 1948 eine so beschriebene Familie vor dem Gelände der Firma Göke sah, fuhr er schnell nach Hohenlimburg. Dort war Kirmes und Herr P. wollte dort einen Besuch machen. Er fand ihn auch sofort, fuhr ihn nach Letmathe und konnte der freudigen Begrüßung zusehen. Die Familie zog in ein Zimmer auf dem Betriebsgelände des Arbeitgebers. Früher musste dieser Raum ein Pferdestall gewesen sein. Denn in dem Raum war noch ein großer Trog, der wohl als Futterstelle gedient hatte. Später bekamen sie in der Betriebshalle noch einen weiteren Raum. Schlafen mussten sie auf Strohsäcken, die sie auf Bezugschein bekommen hatten.
Da die Eltern kinderreich waren, bekamen sie Fördermittel und fingen schon um 1949 an, ein Haus zu bauen. Dieser Bau, der nur nach Feierabend hochgezogen wurde, nahm jedoch einige Jahre in Anspruch. Der Einzug war, wie sich Luci erinnert, im Jahre 1952.

Alle drei Damen fanden im Raum Iserlohn ihre zweite Heimat.

 

Kriegsopfer
Auch in den in Letmathe eingerichteten Lazaretten starben deutsche Soldaten. Während dieser Zeit starben – gerechnet nach den auf den Friedhöfen in Letmathe aufgestellten Gedenkkreuzen – 89 Männer den so genannten „Heldentod“ für Volk und Vaterland. Es waren überwiegend junge Soldaten. Auf dem evangelischen Friedhof an der Friedhofstraße stehen 26 steinerne Kreuze und auf dem ehemaligen neuen katholischen Friedhof erinnern 38 Kreuze an die Gefallenen.

Gräber deutscher Soldaten auf dem katholischen Friedhof
Gräber deutscher Soldaten auf dem katholischen Friedhof

Auch in den Letmather Gefangenenlagern sind russische Soldaten gestorben (vgl. Grusemann, Letmather Bürger erinnern sich an die Zeit von 1930 bis 1945, S. 74). Die Verstorbenen wurden in den Lagern auf eine zweirädrige Schiebekarre geladen, von anderen russischen Gefangenen unter Aufsicht eines bewaffneten Wächters zum neuen katholischen Friedhof im Ostfeld gefahren und in aller Stille beigesetzt. So soll es im Krieg gewesen sein, wie mir Zeitzeugen berichteten.

Nach dem Krieg wurden die im Krankenhaus oder auf der Krankenstation im Haus Letmathe Verstorbenen zuerst in die Leichenhalle, die damals am Marienhospital war, gebracht, bevor sie beerdigt wurden. Auf dem Friedhof hatte man an der Seite zum Dümpelacker einen kleinen Teil mit einem Zaun und einer Hecke abgegrenzt. Auf Kosten der Sowjetunion wurde dort ein Denkmal errichtet. Erst nach Beendigung des „Kalten Krieges“ wurde der Bereich für alle Besucher leicht zugänglich gemacht. Auf diesem Denkmal steht in russischer Sprache, von Alexander Dubs ins Deutsche übersetzt:

Ehrenmal für russische Kriegsgefangene - katholischer Friedhof Letmathe
Ehrenmal für russische Kriegsgefangene – katholischer Friedhof Letmathe

Hier ruhen
27 sowjetische Bürger
1941-1945
in ewiger Erinnerung
an unsere Kameraden,
dahingeschieden
in faschistischer
Gefangenschaft

 

 

 

Es starben durch den Zweiten Weltkrieg 1199 Bürger aus dem angegebenen Stadtgebiet (aus: Letmathe, eine aufstrebende westfälische Stadt, Seite 531).

Im Raum Letmathe und Amt Oestrich

tot für tot erklärt vermisste
männlich
vermisste
weiblich
Letmathe  323  42  267  17
Oestrich  242  30  190  12
Lössel  44  4  28  –
 609  76  485  29

 

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors Alois Grusemann

4 Replies to “Nachkriegszeit in Letmathe”

  1. Die von Willi Dicke erwähnten verbrannten Kinder hießen Bernward und Christel Ewers. Christel war im Krieg eine Klassenkameradin und Freundin von mir. Im Hof der Druckerei Ewers züchteten wir zusammen Fleißige Lieschen aus Ablegern. Die Eltern, Theo und Mimi Ewers führten später die Jugendherberge Bilstein.

  2. Herzlichen Dank an Alois Grusemann und an den Heimatverein Letmathe !
    Ist dieser Text ein Auszug über diese Zeit bzw. aus dem Text von Alois Grusemann oder gibt es ein Buch von ihm?
    Evt könnte dieser Text in einer Reihe eines Verlages erscheinen, in dem Heimatvereine bzw. Einzelpersonen, über ihre Region in jener Zeit berichten. Ich könnte einen Kontakt zu einem seriösen Verlag herstellen.
    Mit freundlichen Grüßen
    Carmen Biste
    50676 Köln

  3. Herr Alois Grusemann hat zwei Bücher geschrieben. Leider ist er für paar Jahre gestorben. Ich habe die Ehre, um ihn für mein Buch über den Zweiten Weltkrieges interview zu durften. Er war ein Lokal, Hobby-Historiker und konnte gut erzählen. Momentan schriebe ich das Manuskript meines Buches. Beide seinen Büchern sind nicht mehr verfügbar. Ich habe aber eine Kopie von denen, die Herr Grusemann mir gescheckt hat. Die behalten viele Information!

  4. Der Artikel ist für mich persönlich vollkommen spannend und leicht verständlich geschrieben.
    Wäre eigentlich was für den Schulunterricht .
    Aber das entscheiden ja ganz andere Personen.
    Vielleicht mal eine öffentliche Petition bei Facebook Marte starten und Unterschriften sammeln.

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